Ein Westerwälder Schmied

Burglahr – heute ein 500-Seelen-Dorf im Tal der Wied, überragt von der Ruine der kurkölnischen Burg Lahr – war damals noch ein verträumter Ort. Hauptarbeitgeber in der Region war die Grube Louise (seit 1771). Die Preußen intensivierten ab 1815 den Westerwälder Eisenerzabbau, an den das Burglahrer Be- sucherbergwerk im Alvensleben Stollen erinnert. Viele weitere Erzgruben gaben den Menschen Arbeit und meist betrieb man im Nebenerwerb Landwirtschaft, so kam man halbwegs über die Runden. Die Höfe waren klein der Boden schwer zu beackern. Jedoch hörte man auch von den Regionen in denen Industrie boomte und große Fabriken wuchsen. Dies lockte natürlich viele Menschen zu einem Neuanfang.

Der Schmied Anton Reifenhäuser, dessen Leben rund um Eisen und Erz bestimmt war – die Vorväter betrieben seit Genera-tionen das Schmiedehandwerk – stammte wie seine im gleichen Jahr 1881 geborene Frau Elisabeth, geb. Fuchs, aus dem Dorf Burglahr im Westerwald.

Auf den ersten Blick war es eine ganz persönliche Entscheidung von Anton und Elisabeth Reifenhäuser,  ihr Heimatdorf Burglahr im Westerwald zu verlassen. Gleichzeitig ist dieser Schritt ty- pisch für die Weichenstellungen, die damals vielen Menschen abverlangt wurden. Es ist die Phase der Hochindustrialisierung, die fast zeitgleich mit dem Sieg der verbündeten deutschen Länder über Frankreich (1870/71) und der Ausrufung des Kai- serreichs anbricht. Freigesetzt wurden enorme wirtschaftliche Kräfte. Gleichzeitig kam es zur ersten sozialgesetzlichen Ab- sicherung der arbeitenden Bevölkerung. Der Glaube an den technischen Fortschritt schien damals alles möglich zu machen. Die Industrie begann die landwirtschaftlichen Strukturen in Deutschland abzulösen. Das führte zu starken Wanderungsbe- wegungen der arbeitenden Bevölkerung, aber auch zu Be- triebsgründungen durch gut ausgebildete, technisch versierte und ehrgeizige Handwerker.

Zunächst zog es ihn ins Saarland, ins dritte deutsche Zentrum der Montanindustrie neben dem Ruhrgebiet und Oberschlesien. Aber schon bald ging es wieder in das Rheinland. Ziel des  „Huf- und Wagenschmiedemeisters,“ und seiner Frau war Troisdorf (1911), einer aufstrebenden Industriegemeinde zwischen der Sieg und der Wahner Heide.

Auf dem Grundstück an der Frankfurter Straße 46 gründete und baute Anton Reifenhäuser seine Schmiede, Grundstock der heu- tigen Firma Reifenhäuser. Das Vorderhaus an der Straße bezog die Familie als Wohnhaus. Im Parterre eröffnete Elisabeth Rei- fenhäuser ein Eisen- und Haushaltswarengeschäft für Dinge des täglichen Bedarfs.

Troisdorf verfügte zu dieser Zeit über Industriebetriebe, die auf gute Schmiede- und Schlosserarbeiten angewiesen waren. In kaum hundert Jahren war aus dem wenige hundert Einwohner zählenden Dorf eine 6.000-Einwohner-Gemeinde geworden.

Die Friedrich-Wilhelms-(Eisen )Hütte gehörte zu den ersten großen Unternehmen (seit 1825). Im Jahr 1887 baute die junge Rheinisch-Westfälische-Sprengstoff-Actien-Gesellschaft (RWS) ihre Zündhütchen- und Sprengkapselfabrik an der heutigen Kai- serstraße. In diesem Umfeld schlug sich die Familie gut. Anton Reifenhäuser erwarb sich erhebliches Ansehen und wurde zum Obermeister der Kreishandwerkerschaft ernannt, eine Aufgabe, die er voller Pflichtbewusstsein ausübte.

Die Zeichen der Zeit
erkannt

Das machte Familie und Be- trieb aber nicht unabhän-  gig von den großen poli- tischen Entwicklungen. Während des ersten Welt- krieges war Anton Reifen- häuser zum Militär einge-zogen. Jedoch konnte der Betrieb von seiner Frau in eingeschränktem Maße auf- recht erhalten werden. Nach Kriegsende wurden die Schmiede und Schlosserei und das Eisenwarenge- schäft im alten Umfang wie- der aufgenommen. Dann aber kamen die schweren Jahre der Inflation und der dann folgenden Deflation und brachten gerade für Hand- werksbetriebe große Schwierigkeiten mit sich. Aber auch diese Jahre konnten überwunden werden.

„Mit Blick auf die wachsende Zahl an Automobilen eröffnete Reifenhäuser 1930 zusätzlich eine Automobilwerkstatt und eine Fahrschule.

Etwa zeitgleich fusionierte die Rheinisch-Westfälische Spreng- stoff AG, die ihre Kriegsproduktionen zwangsweise zurück- und die Entwicklung von Kunststoffen hochgefahren hatte, mit der Hamburger Dynamit AG. Als “Dynamit-Actien-Gesellschaft vor- mals Alfred Nobel und Co.“ (DAG) prägte sie Troisdorf für Jahrzehnte. Schon 1905 war der RWS der Durchbruch bei der Herstellung von Celluloidrohstoff ge- lungen.  Und mit der ersten Spritzgussmasse der Welt (TROLIT W) öffnete die RWS bereits 1923 das Tor zu Kunststoff-Verarbeitungstechniken wie das Strangpressen (Extrudieren), Spritzgießen, Kalandrieren, Kle- ben, Schweißen und Umformen – ein Segment, zu dem 25 Jahre später Reifenhäuser als Partner der Dynamit Nobel AG Wesent-liches beizutragen haben sollte.

Nach dem Tod des Firmengründers

Mitte der 1930er Jahre gab es wieder ausreichend Aufträge für die Familienunternehmungen, jedoch verstarb Anton Reifen-häuser 1938 nach schwerer Erkrankung. Der Betrieb wurde nun von Elisabeth mit ihren Söhnen weitergeführt. Jedoch als die Söhne eingezogen wurden, blieb nur das Eisenwaren- und Haus- haltsgeschäft. Unmittelbar nach Kriegsende kamen die Söhne nach und nach Heim mit vollem unternehmerischem Taten- drang, mit neuem Wissen und Ausbildungen. Man hatte die Absicht den Handwerksbetrieb zu einer Maschinenfabrik auszu-bauen.

1948 wurde das passende Segment im Maschinenbau gefunden: „Nach der Währungsreform 1948 kam mit der Idee, Extruder für die Verarbeitung von Kunststoffen zu bauen, ein Wandel in den Betrieb.“ Marktreife erlangte sie zunächst mit dem Reifenhäuser Extruder 48 GFS 30 zur Verarbeitung von thermoplastischen Massen, der wenige Monate nach der Währungsreform vorge- stellt wurde.

Diese Anregung erhielt man von einem früheren Mitarbeiter der benachbarten Dynamit Nobel, die sich schon lange Jahre mit der Verarbeitung von Kunststoffen beschäftigte. Die Zeit nach dem Krieg bot nun gute Voraussetzungen. Es war die Freiheit des offenen Weltmarktes, die Leistung potenzierte, der Frieden in der Gemeinschaft der Völker, der die Früchte der Arbeit reifen ließ; es war der frische Wind des freien Wettbewerbs, der An- sporn zur Leistung gab, und es war das eigene Risiko, das zur Vorsicht und Überlegung zwang.

Das Maschinenbauunternehmen Reifenhäuser startete mit dem Extruder 48 GFS 30 in die Welt. In dieser Situation wirkte die von Ludwig Erhard, dem späteren Wirtschaftsminister und Bundeskanzler, im Auftrag der Westalliierten vorbereitete Währ- ungsreform mit der Einführung der D-Mark wie ein Befreiungs-schlag. In der Folge wurden unglaubliche Kräfte freigesetzt; das Wirtschaftswunder nahm seinen Anfang. Die Troisdorfer Dyna- mit Nobel glaubte an die Chancen der damals immer noch jungen Zukunftsbranche Kunststoffherstellung. Und dazu brauchte man Partner wie Reifenhäuser.

Natürlich übertreffen die heutigen Extruder in ihren Fähigkeiten die frühen Exemplare um Dimensionen, was die Förderung, das Zermahlen, das Mischen, die Erhitzung oder Kühlung der Gra- nulate oder andere Behandlungsvorgänge anbelangt. Aber schon die ersten Exemplare waren das Ergebnis ausgiebiger Über- legungen und Versuche.

Weiterentwicklungen - produktbezogen und in enger Partnerschaft
Der Erfolg der Kunst- stoff verarbeitenden In- dustrie wurde zum Er- folg von Reifenhäuser – und der von Reifen-häuser zum Motor für die Branche. Die stetig wachsende Nachfrage nach immer mehr Produkten aus Kunst- stoff führte zur Nachfrage nach Maschinen, mit denen immer neue Kunststoffe bearbeitet werden konnten, die an die Stelle textiler oder metallener Werkstoffe traten. In dieser Aufbruch-situation entwickelte sich so eine Uternehmenskultur, die auf gemeinsamen Interessen, gegenseitigem Vertrauen und ge- meinsamer Suche nach Lösungen unter Einbringung der jewei- ligen Kompetenzen basierte.

Die großen Chemiewerke begannen sich für Reifenhäuser zu in- teressieren. Gemeinsam wurden mit den Chemikern und Tech- nikern dieser Firmen Ideen und neue Konstruktionen entwick- elt. Kunststoffe schmelzen konnten viele, die Maschinen zur Verarbeitung bauen aber nur wenige. Und so gehörte es zum Alltag, dass die Mitarbeiter der Kunststoffverarbeiter regel- mäßig ins Werk kamen, um mit Reifenhäuser Experten neue Möglichkeiten der Bearbeitung und des Einsatzes von Kunst-stoffvarianten auszutüfteln.

Mit der frühen Eroberung der Auslandsmärkte gehörte der Trois-dorfer Maschinenbauer zu den seltenen Unternehmen, die De- visen nach Deutschland holten. Wie intensiv die Firma und ihre Produkte im Ausland wahrgenommen wurden, zeigt, dass bis weit in die 1950er Jahre „Reifenhäuser“ in Großbritannien die geläufige Bezeichnung für Extruder war.

Die Frankfurter Straße 46 wurde zu eng -
Neubau in Sieglar
Erst 1975 wurde die Frankfurter Straße 46 mit der Un- ternehmensverwaltung aufgegeben. Die Entscheidung Mitte der 1950er Jahre, aus der Stadt aufs Land zu gehen und gleich das ganze Gebiet mit Gleisanschluss zu erwerben im Dreieck zwischen der Spicher Straße, dem Sieglarer Ortsrand und der Autobahntrasse der A 59, war mutig und zu-kunftsorientiert. Die Umsätze bestätig- ten dies. Lagen sie 1950 noch bei knapp 1 Mio. D-Mark, waren es 10 Jahre darauf bereits 30 Mio. D-Mark.

Der Beschluss zur Verlagerung der Produktion fiel 1955. Be- merkenswert ist, dass der Ausbau und die Verlagerung der Reifenhäuser Produktion sowohl konzeptionell wie auch hin- sichtlich der Baumaßnahmen so durchdacht waren, dass sie bis heute Bestand haben. Man erwarb 110.000 qm Bauland für relativ wenig Geld. Im Gegenzug wuchs die Steuerkraft der von Bauernhöfen geprägten Gemeinde deutlich.

Gebaut wurde in Shed-Bauweise. Sie ermöglichte es, zunächst drei Module zu errichten und dann das Werk parallel zum Wachstum des Unternehmens schrittweise zu erweitern, so entstanden im laufe der Zeit von fast 20 Jahren fast 8.000 qm Betriebsfläche und endet mit der Fertigstellung des mehr- stöckigen Verwaltungsgebäudes 1975.

Die Bilanz: Die Umsätze waren von 1950 (1 Mio.) über 1960 (30 Mio.) und 1970 (100 Mio.) auf 145 Mio. DM in 1974 gestiegen, die Zahl der Mitarbeiter von 40 im Jahre 1950 auf 1.035 zum Ende 1974.

Extruder –
Die eiserne       Schnecke, die  mehr kann als pressen

Städten wie Amsterdam und Mailand gab es schnell Reifen- häuser Vertre- tungen. Andere Länder folgten. Im Geschäftsbericht über das Jahr 1958 sind schon 35 Aus- landsvertretungen in allen Erdteilen genannt: neben west- europäischen Metropolen unter anderem Buenos Aires, Sydney, São Paulo, Rangoon, Shanghai, Bogota, Havanna, Bombay, Mexiko, Karachi, Johannesburg und Kapstadt, New York, aber auch Bilbao und Barcelona und – sehr früh – Warschau.

Für die internationale Bedeutung des Unternehmens setzte Hans Reifenhäuser die entscheidenden Akzente durch den Aufbau von Tochterunternehmen, mit den Produktionsstätten in Brasilien und den USA, Vertriebsaußenstellen in England, Frankreich, Dänemark und den Philippinen, die Vergabe von Fertigungsli- zenzen nach Japan, Volksrepublik China, Indien, Polen, Jugos-lawien und Südafrika. Als absoluter Zukunftsmarkt stellten sich die USA dar.

Noch 1986, als Reifenhäuser das 75. Firmenjubiläum und gleich-zeitig „25 Jahre Extruder aus Südamerika“ feiert und zum Vertretertag mit den Mitarbeitern aus den anderen süd- amerikanischen Ländern nach São Paulo lädt, gilt ganz viel Zukunft als gewiss.  Jedoch musste das Engagement zum groß- en Bedauern aller Beteiligten im Jahre 2003 beendet werden.

Aber selbst in diesen Partnerländern gibt es immer noch so viele nationale Besonderheiten, dass der Verkauf ins Ausland auch heute noch zu einer Königsdisziplin für Unternehmen zählt, in der man ohne gute Verkäufer und Vertreter leicht auf der Strecke bleibt.

Mit dem im Jubiläumsjahr 2011 gestarteten ersten "Extrusio- neers Innovation Contest" intensiviert Reifenhäuser den welt- weiten Innovations-Dialog zum Thema Kunststoffextrusion. Motto des Wettbewerbs um die besten Ideen für Produkte, Pro- zesse und Maschinen
(mit eigener Homepage www.extrusioneers-innovation-contest.com)
ist "Thinking outside the box".

1986 wurde die 1. Extruderanlagen von Reifenhäuser nach China verkauft, dort von Balk aufgebaut und im Januar 1987 innerhalb von zwei Wochen anstandslos abgenommen. Im gleichen Jahr wurden 10 leicht modifizierte Anlagen über den „großen Teich“ in die USA verschifft.

Wer heute die Lead-Messe in Genf besucht, sieht Reifenhäuser dort als Weltmarktführer, der Anlagen in einer Komplexität und Qualität baut, wie sonst niemand.

In gleicher Formation präsentierte sich die Gruppe dort auch im Mai 2011. Den Stellenwert dieses Engagements unterstrich Ulrich Reifenhäuser, Geschäftsführer der Reifenhäuser GmbH & Co. KG Maschinenfabrik, mit folgender Feststellung: „Schon vor der globalen Wirtschaftskrise haben wir frühzeitig einen un- serer Schwerpunkte auf das Wachstum im asiatischen Raum gelegt. Und während der Krise haben wir die Zeit für weit- reichende technische und geostrategische Weichenstellungen genutzt. Die marktreifen Ergebnisse stellen wir jetzt auf der Chinaplas vor. Denn hier liegt ein wichtiger Teil der Zukunft der Unternehmen innerhalb der Reifenhäuser Gruppe.“ In diese Aussage mit einbezogen sind die Wachstumsmärkte in Indo- nesien, Singapur, Thailand, Vietnam und Australien, die eben- falls tendenziell verstärkt auf Reifenhäuser Technologie setzen. Dabei sind die enge Verzahnung von Leistungsfähigkeit und Robustheit der Reifenhäuser Anlagen bei gleichzeitig günstigen Produktionskosten – auch infolge eines niedrigen Energiever- brauchs -wertvolle Pluspunkte.

Begriffe wie Firmenphilosophie und Geschäftsstrategie gab es im Sprachgebrauch von Schlossern und kleineren Maschinenbauern zum Ende der 40er Jahre noch nicht, als sich das Familien-unternehmen Reifenhäuser auf seinen Erfolgsweg machte. Aber alle wussten, was und wie sie es wollten. Die Vorgaben von Hans und Fritz Reifenhäuser und von Heinz Herchenbach lau- teten:

„Von Anfang an war unsere Zielsetzung, Extruder für alle Anwendungsgebiete der Kunststoffverarbeitung zu bauen.“

Die weiteren Bestrebungen gingen dahin, der Plastik verar-beitenden Industrie komplette Anlagen zu liefern, die eine kontinuierliche Verarbeitung von thermoplastischen Kunststoffen vom handelsüblichen Rohstoff bis zum verkaufsfertigen End- produkt ermöglichten."

„Wir versuchten, durch Forschung und Entwicklung unser Ange- bot zu erweitern und neue Märkte zu erschließen.
Das berühmte Know-how einer Firma steckt nicht in einigen we- nigen Köpfen. Jeder Mitarbeiter entwickelt an seinem Platz ein Stück davon.“

Zuverlässigkeit, Vertrauen bis hin zu Freundschaft mit Ge- schäftspartnern und Lieferanten, dazu die Suche nach inno- vativen technischen Lösungen und die Bereitschaft für die Er- folge in Vorlage zu gehen, unternehmerisch zu investieren, wur- den in diesen Startjahren zu einer belastbaren Unternehmens- kultur. Mit ihr wuchs das Unternehmen zu einem der wichtigsten Maschinenbauer der Welt für die Kunststoffindustrie, wurden Wirtschaftskrisen, politische Verwerfungen, die Ölkrise und zeit- weilige geschäftliche Rückschläge überstanden. Und mit ihr wur- de der in vielen Familienunternehmen schwierige Wechsel von der 2. auf die 3. Generation problemlos gemeistert.